Auf Bruce Chatwins Spuren
Als Jugendliche mochte ich Bruce Chatwin. Sein Buch "In Patagonien" hat bei mir allerlei Kopfkino ausgelöst, außerdem Fernweh und den damit verbundenen, wenn auch irgendwie kaum greifbaren Gedanken, diesen entlegenen Sehnsuchtsort irgendwann einmal selbst zu erkunden. Während unserer Reise muss ich immer wieder daran denken, aber an diesem Tag ganz besonders.
Um kurz nach acht werden wir am Hotel von einem kleinen Bus eingesammelt, die "Schrottkarre" darf parken, denn wir haben für die nächsten Tage Ausflüge gebucht. Heute fahren wir zur Estancia Cristina, was auch immer das ist, bei El Calafate denkt der gemeine Tourist in aller Regel zuerst an den berühmten Perito Moreno Gletscher - so auch ich. Die Agentur hatte uns diesen Ausflug allerdings sehr ans Herz gelegt. Ausreichend Zeit war da und das Geld konnten wir auch noch zusammenkratzen, warum also nicht? Es war eine eher spontane Entscheidung - und wir sollten sie nicht bereuen.
Die längere Busfahrt endet in Punta Bandera am Lago Argentino, wo wir an Bord eines Schiffes gehen. Als wir losschippern, ist das Wetter durchwachsen. Und weil ich darüber hinaus so gar nicht im Bilde bin, was eigentlich auf uns zukommt, bewegt sich der Level meiner Euphorie auf einem insgesamt überschaubaren Niveau.
Das ändert sich allerdings schlagartig, als nicht nur die Lichtverhältnisse wechseln, sondern auch die ersten Eisberge in Sicht kommen.
Ich bin wie verzaubert und werde nur vom Bordfotografen aus meinen Tagträumen gerissen. Er will mich zu "lustigen" Fotos inspirieren, ich soll mich so hinstellen, dass es aussieht, als klebe meine Nase an einem Eisberg fest oder als lege ich meine Hand auf dessen Spitze. Und dann natürlich das Ergebnis käuflich erwerben. Er will es zuerst nicht glauben, aber nichts von alledem kommt für mich in Betracht, und so gehen wir ziemlich schnell und ziemlich konsequent getrennte Wege.
Wir gleiten am riesigen Upsala-Gletscher entlang, und plötzlich hören wir wieder dieses tiefe Rumpeln und Grollen, das wir schon am Lago Grey erlebt haben: Ein großer Eisberg kippt vor uns spektakulär um und offenbart seine nicht minder spektakuläre Unterseite. Sie besteht aus blankem Eis und ist deshalb leuchtend blau - eine beinahe unwirkliche Farbe.
Die Bootsfahrt ist schlichtweg großartig und dauert zwei Stunden, dann sind wir da. Die Estancia Cristina inmitten des Los Glaciares Nationalpark wurde 1914 von Auswanderern gegründet, ist nur mit dem Boot zu erreichen und die traumhafte, unberührte Natur sowie die Abgeschiedenheit nehmen mich sofort gefangen. Es muss fantastisch sein, in dieser wilden, stillen Umgebung wenigstens eine Nacht oder auch mehrere Tage zu verbringen - was einige der anderen Gäste tun, denn die Ranch ist eine Lodge und vermietet schöne Cottages.
Für uns geht es per Jeep über eine steile, ruppige Schotterstraße hinauf in die Berge, zuletzt führt ein kurzer, leichter Spaziergang durch eine von Gletschern geprägte, dramatische Landschaft zu einem Aussichtspunkt.
Dort verschlägt es uns den Atem. Nicht nur wegen des imposanten Ausblicks auf Gletscher, Anden und türkisblaues Wasser.
Sondern auch, weil uns der patagonische Wind erstmals voll erwischt. Er bläst so heftig und konstant, dass er mich wie ein Luftkissen trägt.
Wir verbringen eine ganze Zeit hier oben, staunen und können uns kaum sattsehen.
Zurück auf der Estancia sind wir von all den Eindrücken schier erschlagen. Wir haben auf das Drei-Gänge-Menü verzichtet, das wir im Vorfeld hätten bestellen können, und gönnen uns stattdessen im schönen, hellen Restaurant der Ranch nur einen Snack. Auch der Besuch eines kleinen Museums findet ohne uns statt. Ich habe die Historie allerdings später nachgelesen und sie ist hochspannend! Wie es wohl gewesen sein muss, an solch einem Ort zu leben? Auf jeden Fall nicht immer leicht. Wir laufen noch ein wenig herum, saugen Atmosphäre auf und sinken schließlich erschöpft auf eine Bank, wo wir einträchtig einschlummern.
Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Aber nein, wir haben die Abfahrt des Katamarans nicht verschlafen. Auch wenn ich wirklich unglaublich gerne dort übernachtet hätte.
Das Boot macht zurück richtig Tempo, nur durch den engen "Teufelsschlund" fast am Ziel kriechen wir regelrecht hindurch. Mit der Sonne ist es vorbei. Der Wind heult und wirft das Boot in den hohen Wellen hin und her, doch schließlich ist es geschafft. Wir krabbeln von Bord und in den Bus, elf Stunden nach unserer Abfahrt sind wir wieder am Hotel. Noch ein schnelles Abendessen, dann fallen wir ins Bett. Es war ein langer, ereignisreicher Tag, der all meine Vorstellungen von Patagonien übertroffen hat. Mein Kopfkino hat Hochkonjunktur. Ganz so, wie es Bruce Chatwin gefallen würde.