La Mula - Marea del Portillo
Bei La Mula
Als der Campismo-Hahn zu krähen beginnt, ist es genau sieben Uhr. Einen Moment glaube ich, er säße direkt neben mir auf dem Kopfkissen und nicht zum ersten Mal frage ich mich, was diese verflixten Viecher eigentlich veranlasst, jeden Morgen so einen Krach zu veranstalten. Gut ist, dass ich früh loskomme. Heute möchte ich auf jeden Fall vor der großen Hitze des Tages aufbrechen.
Einer der Vorteile beim Radreisen ist, dass man nicht viel zu packen hat. Ich muss nur meine wenigen Sachen in den Satteltaschen verstauen, den Luftdruck der Reifen prüfen, und fertig. Duschen fällt wegen Wassermangel sowieso aus.
Der Cantinero (Kantinenwirt) hatte mir gestern versprochen, dass es um halb acht Uhr Frühstück geben soll. Im Campismo-Restaurant ist allerdings niemand zu sehen, alles ist verrammelt und dunkel. Ich gehe zum Rezeptionsgebäude. Auch hier keine Menschenseele. Ich klopfe gegen Türen und Fenster und rufe laut:
„Hola, hay alguien?“. (Hallo, ist hier jemand?)
Keine Antwort. Da fällt mir ein, dass ich gestern einen Guardia (Wachmann) beim Campismo-Eingang gesehen habe. Den muss ich allerdings erst wecken und seine schlaftrunkene Auskunft hilft auch nicht weiter:
„Es posible que alguien viene entre nueve y diez“ (Möglicherweise kommt jemand zwischen 9 und 10 Uhr)
Das heißt aber auch, es ist möglich, dass niemand kommt, oder, dass erst viel später jemand kommt.
So lange will ich nicht warten. Dann muss ich halt ohne Frühstück los. Blöder ist allerdings, dass ich nirgends Trinkwasser kaufen kann. Ich habe nur noch eine 1,5L Wasserflasche aus Chivirico. Das reicht nicht für den ganzen Tag und unterwegs wird es vermutlich nichts zu kaufen geben.
Hinter meiner Cabaña ragt eine Wasserleitung aus dem Boden. Es ist die einzige Möglichkeit, meine leeren Flaschen aufzufüllen. Da das Wasser vermutlich aus dem Rio La Mula stammt, in dem die Leute ihre Tiere, ihre Kleider und sich selbst waschen, und wer weiß was sonst noch einleiten, tue ich lieber ein paar Wasserdesinfektionstabletten (Micropur) dazu.
Und los geht’s.
Höhenprofil La Mula – Marea del Portillo
Mein Tagesziel ist das ca. 55km entfernte Marea del Portillo. Das Höhenprofil der heutigen Strecke zeigt vier Peaks. Sie sind nicht besonders hoch, sehen aber steil aus.
Ich folge zunächst einer ungeteerten Straße, voller Geröll und Schlaglöcher. Fahrtechnisch nicht besonders schwierig, aber ich muss mich permanent konzentrieren, um größeren Brocken und Löchern rechtzeitig auszuweichen. Zwischendurch gibt es geteerte Straßenabschnitte, dann wieder Strecken, die mal vor langer Zeit geteert waren, aber im Laufe der Jahre durch Erosion weitgehend entteert wurden.
Die Anstiege sind steil und knackig, aber gut zu schaffen, da sie nicht allzu lang sind. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne brennt, mein Wasserverbrauch ist hoch. Ich frage mich, ob das zum Problem werden könnte.
Aufgrund starker Unwetter und Steinstürze ist die Straße abschnittsweise schwer beschädigt. Nach jedem Hurrikan verschwindet ein Stück der Küste und die Straße ist oft tage- oder wochenlang unpassierbar.
WOW - Was für eine Landschaft!
Landschaftlich ist es zweifellos der schönste Streckenabschnitt der gesamten Küstenstraße. Wild, unzugänglich und mit wunderschönen Ausblicken auf einsame Buchten und auf ein strahlend blaues Meer.
Während des ganzen Tages begegnen mir nur zwei motorisierte Fahrzeuge. Hier zu sein, und das aus eigener Muskelkraft geschafft zu haben, ist ein berauschendes Gefühl.
Kubas Küste
Eingestürzter Tunnel
Abenteuerliche Straße entlang der kurvenreichen und wilden Küste
Radeln macht hungrig. Vor allem, wenn man, wie ich, ohne Frühstück gestartet ist, fällt man irgendwann in ein Leistungsloch. Plötzlich ist alle Energie weg und man bekommt einen Heißhunger auf Kohlehydrate und überhaupt auf alles Essbare. Dann hilft nur anhalten und etwas essen.
Unweit einer kleinen Ansiedlung setze ich mich in den Schatten einer Palme. Ich habe noch ein paar Kekse, ein Stück Käse und ein paar Schokoriegel im Gepäck. Dazu brühwarmes Campismo-Wasser aus dem Rio Mula.
Ich sitze nicht lange, da setzt sich ein älterer Campesino zu mir. Wie die meisten Menschen dieser Gegend ist er einfach gekleidet, in der Hand hält er eine Machete, auf dem Kopf sitzt ein Strohhut.
„Hola Compay“, beginnt er das Gespräch.
Ich biete ihm von meinem Proviant an, doch Kekse mit Käse will er nicht. Kann ich ihm auch nicht verdenken, der Käse ist seit Santiago schon mehrmals geschmolzen und sieht wenig vertrauenswürdig aus.
Wir reden ein bisschen über dies und das. Natürlich will auch er wissen, woher ich komme und wohin ich gehe, welche Nationalität ich habe, wie oft ich schon in Kuba war, ob ich verheiratet bin, wie viele Kinder ich habe und ob es in Deutschland wirklich so kalt ist.
In den Städten und den Touristengebieten Kubas kann es nerven, wenn man immer wieder die gleichen Fragen beantworten soll und die Gespräche oft nur auf eine Bettelei, ein Provisionsgeschäft, oder ähnliches hinauslaufen. Hier ist das nicht so, die Leute haben echtes Interesse an Kommunikation und freuen sich über die kleine Abwechslung, die ein Fremder in ihr Leben bringt.
Unser Gespräch dauert nicht lange, da lädt er mich zu sich nach Hause ein. Als wäre es das normalste der Welt, einen verschwitzten, käseessenden Fremden bei sich einzuquartieren, bietet er mir an, in seinem Haus ausruhen, zu übernachten, zu essen und meine Wasservorräte auffüllen. Er bietet mir alles an, was sein bescheidenes Leben erübrigen kann.
Aber wie schon tags zuvor in Uvero lehne ich die Einladung ab. Ich habe einfach noch zu viel Energie in den Knochen. Hätte ich diesmal die Einladung angenommen, wäre wahrscheinlich alles anders gekommen, nichts von dem wäre passiert, was wenige Stunden später passieren wird.
Aber frisches Trinkwasser brauche ich dringend. Das Rio La Mula Wasser hat inzwischen Badewassertemperaturen erreicht, und auch geschmacklich wird es immer grenzwertiger.
Wir gehen zu seinem nahegelegenen Haus, das auf einem schattigen Grundstück steht. Es ist ein hübscher Ort und unglaublich friedlich. Die Frau des Campesino begrüßt mich herzlich, als wären wir alte Bekannte und bringt mir eine 1,5 Liter Flasche Wasser.
Cool! Eiskaltes Wasser ist in dieser Gegend unerwarteter Luxus und genau das, was ich am dringendsten benötige.
Ich danke herzlich und strample weiter Richtung Osten.
Nach jedem Anstieg...
…folgt…
…das nächste Panorama.
Für den Fotografen in mir...
...ist die Gegend ein Eldorado.
Die letzte Abfahrt vor meinem Tagesziel Marea del Portillo
Irgendwann habe ich die letzte Höhe erklommen, das letzte Panorama bewundert und fotografiert
, und vor mir liegt nur noch eine, letzte Abfahrt nach Marea del Portillo, meinem Tagesziel. Die Straße ist hier extrem schlecht, kurvig und abschüssig. Alte gesprungene Teerreste wechseln mit Schotter- und Geröll, tiefe Furchen und Schlaglöcher überziehen die Fahrbahn. Wegen der kaputten Oberfläche muss ich sehr konzentriert fahren. Ich darf den Blick keine Sekunde von der Straße abwenden. Da es bergab geht, lasse ich mein Fahrrad trotzdem ziemlich flott laufen. Ich genieße den kühlenden Gegenwind und freue mich schon auf ein kaltes Bier in Marea del Portillo.
Plötzlich reißt mir ein Windstoß den Hut (von La Abuela) vom Kopf. Reflexartig versuche ich mit der linken Hand danach zu greifen. Im selben Moment gerät mein Vorderrad in eine Spurrille, das Fahrrad kommt ins Schleudern. Da ich nur eine Hand am Lenker habe, kann ich es nicht abfangen. Ich werde im hohen Bogen auf die Straße geschleudert und schlittere mehrere Meter über Steine, Schotter, Teer. Ich spüre noch, wie Arme, Beine und auch mein Kinn über die raue Oberfläche schrammen.
Dann bleibe ich, kurz vor Marea del Portrillo, mitten auf der Straße liegen.